Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler über das von ihm herbeigesehnte Ende des Kapitalismus und das Potenzial der „Fridays for Future“-Bewegung.
Interview: Johannes Greß
Am 15. März haben in Wien über 30.000 Schülerinnen und Schüler für mehr Klimagerechtigkeit demonstriert. Andererseits hat Österreich mit Heinz-Christian Strache (FPÖ) einen Vizekanzler, der in Zweifel zieht, dass der Klimawandel wirklich menschengemacht ist. Wie erklären Sie sich so eine Diskrepanz?
Die „Fridays for Future“-Demonstrationen sind großartig. Millionen Kinder und Jugendliche sind Mitte März auf die Straße gegangen und haben ihre Regierungen angeklagt. Ihr Protest ist von keiner Partei initiiert, sondern spontan. Sie sagen: „Das ist unser Planet, wir müssen darauf noch leben und wir wollen, dass so ein Leben möglich bleibt – und wir verlangen von den Regierungen radikale Eingriffe!“ Sie zielen praktisch auf eine Zerstörung des Kapitalismus ab. Andererseits wurde in Österreich diese Regierung gewählt, die Flüchtlinge zurückweist und zudem den Klimawandel negiert. Das ist für mich ein Rätsel: Wie ist das in einer lebendigen Demokratie möglich?
Die jüngeren Generationen gelten oft als sehr individualistisch und karriereorientiert …
Was an den Freitagen in Bezug auf die jüngeren Generationen sichtbar wird und noch sichtbarer werden wird, das ist das Erwachen einer planetarischen Zivilgesellschaft. Che Guevara hat gesagt: „Auch die stärksten Mauern fallen durch Risse.“ Und Karl Marx hat einst geschrieben: „Der Revolutionär muss imstande sein, das Gras wachsen zu hören.“ Und das Gras wächst, es gibt Hoffnung!
Angesichts der Klimakrise, einer eklatanten Vermögensungleichheit, eines aufkeimenden Rassismus und Antisemitismus denkt man sich dabei auch, wann soll eine linke Kraft entstehen, wenn nicht jetzt?
Jetzt wäre die Zeit! Die 36 reichsten Milliardäre der Welt haben vergangenes Jahr laut Oxfam so viele Vermögenswerte kontrolliert wie 3,7 Milliarden Menschen auf dieser Welt. Die Reichen werden sehr, sehr schnell reicher. Die Armen sehr, sehr schnell ärmer. Der reichste Mann der Welt, Jeff Bezos, der Gründer und Hauptaktionär von Amazon, besitzt rund 142 Milliarden US-Dollar Eigenvermögen. Das kann man sich gar nicht vorstellen. Die totale Ungleichheit ist unter anderem verantwortlich für das Elend, den Hunger von hunderten Millionen Menschen auf dieser Welt.
Das kann derzeit vor allem die politische Rechte nutzen.
Das stimmt. Die AfD ist derzeit in Umfragen in Deutschland so stark wie die SPD. In der lebendigen österreichischen Demokratie wurde ein Bundeskanzler gewählt, der protofaschistische Züge hat (Protofaschismus ist ein in der Geschichtswissenschaft verwendeter Begriff, der eine Radikalisierung des Konservatismus beschreibt, Anm. d. Red.). Seine Alliierten sind Viktor Orbán und die aktuelle rechte Regierung in Polen, die das Asylrecht, ein universelles Menschenrecht, täglich willentlich verletzen. Das ist eine Perversion. Aber ich glaube, die politische Rechte wird wieder verlieren. Die zivilgesellschaftliche Bewusstseinsbildung ist erwacht und ein Politiker wie Sebastian Kurz wird bald einmal im Abfalleimer der Geschichte verschwinden. Das scheint mir evident zu sein.
Sie haben Ihr aktuelles Buch „Was ist so schlimm am Kapitalismus“ Ihrer Enkeltochter gewidmet. Wird sie in 30 oder 40 Jahren einmal sagen können, dass ihr Opa Recht hatte, der Kapitalismus ist schlimm?
Sie sagt Jean. Ich verbiete ihr, Opa zu sagen (lacht). Das Buch ist ein Dialog mit meinen fünf Enkelkindern im Alter von drei bis 16 Jahren. Zohra ist das einzige Mädchen, deshalb hat die Mutter gesagt, ich soll im Buch zu ihr sprechen. Im französischen Original lautet der Titel: Den Kapitalismus meiner Enkelin erklären – in der Hoffnung, sie werde sein Ende erleben („Le capitalisme expliqué à ma petite-fille – en espérant qu’elle en verra la fin“). Und ich hoffe nicht nur, dass sie das Ende erlebt. Ich will es auch noch erleben! Und ich glaube, dafür stehen die Chancen gut. Aber die Hoffnung, die begründete gute Hoffnung, ist die Zivilgesellschaft der neuen Generation. Mein Buch – auch wenn das jetzt vielleicht etwas pompös klingt – soll eine Waffe sein für die Bewusstseinsbildung und den Kampf dieser jungen Generation! Entweder wir ändern diese kannibalische Weltordnung oder niemand wird es tun.
Jean Ziegler (84) gilt als einer der weltweit bedeutendsten Globalisierungskritiker. Der emeritierte Soziologieprofessor und Schweizer Politiker war UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung.
Johannes Greß studiert Politikwissenschaft und lebt als freier Journalist in Wien.
Jean Ziegler: Was ist so schlimm am Kapitalismus? Antworten auf die Fragen meiner Enkelin. Bertelsmann, München 2019, 128 Seiten, € 15,50
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